FOMO (Er-)Schöpfung ohne Ruhezeit

Mit Schulbeginn startete wieder die Diskussion über ein mögliches Handyverbot in den Klassenräumen. Zu viel Zeit am Smartphone führt bei jungen Menschen angeblich vermehrt zu Ängsten, Depressionen, Ess- oder auch Konzentrationsstörungen. Mir selbst hat sich die Begeisterung für digitale Medien ja nie erschlossen, bis auf ein altes Mobiltelefon – zum Telefonieren und SMS-Schreiben – lebe ich komplett analog. Umso weniger begreife ich freilich, dass derzeit wirklich alle, wirklich überall, wirklich immer, auf ihre Smartphones starren. Ob Mann, Frau, Kind, jung, alt, egal – eine menschliche Hand scheint mit dem beliebten Allround-Gerät praktisch verwachsen zu sein. Im Wartehäuschen, im Bus und in der Straßenbahn bin ich inzwischen die Einzige weit und breit, die beide Hände und Augen frei hat. Damit schaue ich manchmal, erfüllt von verständnisloser Faszination, auf das, worauf andere gebannt schauen: auf zu bestellende Waren aller Art oder auf Personen, die sich die Nägel lackieren, Wimpern aufkleben, Hunde frisieren, Speisen zubereiten, tanzen… Zuletzt betrachtete ein Herr im Bus am Sitz vor mir eine ganze Fahrt lang nichts als Würste…

Etliche vertreiben sich die Zeit auch mit Spielen, ordnen seltsame Figürchen oder eliminieren alles, was sich ihrem kleinen Bildschirm-Alter-Ego in den Weg stellt. Warum überdies alle permanent informiert und unterhalten werden wollen, ist und bleibt mir ein Rätsel. Und warum sich viele so gern im Leben anderer aufhalten. Zuschauen, wie Promis Einkäufe auspacken und Produkte in die Kamera halten, um so als Influencer reich zu werden. Oder warum plötzlich alles fotografiert und wild durcheinander abgespeichert wird.

Nein, ich will nicht alles schlechtreden oder gar aufhalten, was der Fortschritt mit sich bringt. Dennoch wird einem ein digitales Leben förmlich aufgezwungen. Altersdiskriminierung zwischen Tools und Help-Desks mag unbestritten sein, betrifft aber nicht nur ältere Menschen, sondern faktisch alle, die sich weigern, im Netz ihre Daten samt Bankgeheimnissen, Kontoübersichten und Arztbesuchen auszubreiten oder dank Kundenkarten ihren (ungesunden) Lebensstil überwachen zu lassen. Bargeldzahlungen und Bedienung am Schalter durch echte Menschen werden seltener. Einloggen statt anlächeln, so offensichtlich die neue Devise oder auch: Passwort statt Grußwort.

Sogar ich weiß, dass man eine „Anmeldemaske“ nicht aufsetzen kann und ein „Transparenzportal“ physisch nicht zu durchschreiten ist. Weitgehend bemühe ich mich, es mit Bob Dylan zu halten, also: „Don’t criticise what you can’t understand.“ Trotzdem möchte ich nicht überall dabei sein und mitmachen müssen. 

Und ich würde gern ganz unschuldig darauf hinweisen dürfen, dass es nicht automatisch schon ein Fortschritt ist, wenn es plötzlich Fachbegriffe und programmierbare Analysen für alle möglichen Probleme gibt, aber noch immer keine Lösungen. Und Fortschritt heißt leider auch, dass wir es in allerkürzester Zeit geschafft haben, das meiste – oft jahrtausendelang Gewachsene – kaputt zu machen. Zum Beispiel: Erde, Umwelt, Klima, Sozialkontakte auf Augenhöhe, respektvolle Begegnungen, das Unterscheiden von Meinung und Wahrheit sowie Privatheit und Individualität. Auch finden viele Formen von Radikalisierung und terroristischer Gefahr mittlerweile fast komplett im Netz statt. Und nicht einmal auf die Wetter-Apps soll wirklich Verlass sein. Nicht zwangsläufig kompetenter, doch um vieles poetischer könnte auch hier wieder Bob Dylan helfen, wenn er feststellt: “Manche spüren den Regen, die anderen werden nur nass”…

Abgesehen von Regentagen bietet der September noch etliche Welt- und Gedenktage, die in unserer Zeit eher wie aus der Zeit gefallen anmuten: 1.9.: Welttag des Briefeschreibens, aber auch Beginn der von christlichen Kirchen weltweit und ökumenisch begangenen, fünfwöchigen Schöpfungszeit zum sorgsameren Umgang mit Umwelt und Natur. 6.9.: Earth Day, die globale Aktion gegen Lichtverschmutzung. Und am 14.9. schließlich: Tag der Ruhe. Lauter Tage, deren Themen ziemlich gestrig wirken, liebt es der Mensch der Gegenwart doch mehrheitlich schnell, zugelärmt und grell erleuchtet. Auch das Wort Schöpfung dürfte für viele keine Bedeutung mehr haben, impliziert es mit der Idee eines Schöpfers doch die Annahme, es könnte noch Größeres geben als uns selbst.

Die Digitalisierung ist eng verknüpft mit dem Zeitgeistgefühl des sogenannten FOMO, fear of missing out, zu Deutsch: die Angst, etwas zu versäumen. Mir ist nur ein Mensch bekannt, der es liebt, etwas zu verpassen. Und das bin ich. Jeden Morgen freue ich mich schon auf alle Abendveranstaltungen, die ich nicht besuchen werde, auf Events, denen ich fernzubleiben gedenke und auf Unternehmungen, die dankenswerterweise ohne mich stattfinden. Ich genieße es sehr, irgendwo nicht dabei zu sein oder etwas auszulassen, das scheinbar alle gerade unbedingt wollen. Nach beeindruckenden Leistungen bei sportlichen Wettbewerben scheint das olympische Motto „Dabeisein ist alles“ für viele Menschen zur Alltagspflicht geworden zu sein. Dass es dabei nicht ums Gewinnen geht, lehrt uns auf subtile Weise ein knappes Gedicht von Günter Grass, mit dem auch besagter Schöpfungszeit solide gehuldigt werden könnte. Es trägt den Titel “Tour de France” und lautet schlicht: „Als die Spitzengruppe / von einem Zitronenfalter / überholt wurde, / gaben viele Radfahrer / das Rennen auf.“

Andrea Sailer / Weiz

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