TA Mag. Matthias Graf

Die Hexe Lilli – Teil 1

Jeder von uns wird das kennen: Es gibt einfach Menschen, die schaffen es, ständig in kuriose Situationen zu stolpern. Personen, welche die Küche abfackeln, obwohl sie nur ein Glas warme Milch machen wollten, die ein Auto zerschrotten, weil man dem Parksensor nicht vertrauen kann oder das Mobiltelefon im Pool versenken, weil man einfach einen ganz lässigen Sprung ins Wasser machen wollte, ohne zuvor die Hosentaschen zu kontrollieren.

Genau solche Exemplare gibt es im Bereich meiner Patienten auch hin und wieder. Wie eben die Hexe Lilli.

Lilli erblickte auf einem durchschnittlich großen und guten Milchbetrieb, dem „Annamiatl-Hof“, das Licht der Welt. Wie heute üblich, verbrachte sie die ersten Tage in einer exklusiven, großen, gut eingestreuten und mobilen Kälberbox. Dort konnte sie in Ruhe lernen, all ihre vier Beine koordiniert zu gebrauchen, was scheinbar recht rasch funktioniert hat. Denn schon nach den ersten Tagen musste der Landwirt Lilli das erste Mal aus einer misslichen Lage befreien. Sie war vor lauter Herumhüpferei bei der Fressluke am vorderen Ende der Box hinausgehüpft, ist dabei aber mit dem Becken dort hängen geblieben. Da die Box etwas erhöht stand, hat sie quasi einen Handstand hinaus gemacht, was ihr natürlich nicht gepasst hat und das tat sie lautstark kund. Gott sei dank ist dabei nichts passiert, aber der Landwirt musste die Fressluke versperren, weil die Hüpferei trotzdem weiter forciert wurde.

Also beschloss man, sie schon etwas früher in die Gruppenhaltung zu geben. Dort war genug Platz, den Bewegungsdrang ausleben zu können. Und man konnte von den anderen lernen, wie man sich benimmt.

Und genau dort wurde ich bei Lilli das erste Mal vorstellig. Ich wurde auf den Hof gerufen, weil sich ein Kalb am Bein verletzt hatte. Das sind immer interessante Visiten, da die Bandbreite dessen, was man vorfinden könnte, ziemlich breit ist. Von der offenen Fraktur bis hin zum einfachen Kratzer ist dabei alles drin.

„Do is der Luftikus“, kommentierte der Landwirt, als wir beide vor der Kälberbox standen, in die Lilli zwecks „Bettruhe“ zurückbeordert wurde. Sie stand auf  drei Beinen normal, das vordere linke Bein wurde dabei entlastet. Kann viel sein, oder gar nichts. Also erst einmal untersuchen. Direkte Anzeichen einer Fraktur konnte ich vorerst nicht erkennen, einzig im Bereich des Karpalgelenkes war ein Schnitt zu erkennen, mit etwas geronnenem Blut und einer leichten Schwellung.

„Was isn eigentlich passiert“, fragte ich, während ich das Bein betastete. „Genau kann i des eigentlich ned sagen. Ich hab nur einen Rumpler gehört und als ich nachgeschaut hab, ist der Luftikus auf dem Kälbertränkeautomat gestanden, mit einem Bein in der Nachfüllöffnung hängend. Des hat bis jetzt noch nie a Keiwal geschafft, muas i sogn. Die is generell besonders. Wenns was zum Kaputtmachen gibt, ist sie dabei.“  Weiters gestand er mir, dass sie deswegen „Lilli“ heißt, weil die Tochter das Kinderbuch „Die kleine Hexe Lilli“ gerade ziemlich gerne vorgelesen bekommt und das Kalb auch eine Art Hexe für ihn ist.

Nachdem ich den Wundbereich geschoren hatte, war ein etwa 3cm langer, gerader Schnitt zu erkennen, der etwas in die Tiefe ragte. Aber nicht so tief, als dass kritische Strukturen wie Gelenke oder Sehnen direkt betroffen waren. Glück im Unglück. Um dennoch etwaige Beschädigungen am Knochen ausschließen zu können, habe ich die Wunde erstmal versorgt, dem Kalb mittels Schmerzmittel geholfen und das Bein sicherheitshalber in einen Castverband gesteckt. Ich wollte es so lange ruhig stellen, bis ich am Nachmittag Zeit fand, mit unserem mobilen Röntgengerät ein paar Bilder vom verletzten Fuß zu können, um eine Fraktur grob ausschließen zu können.

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